Sonntag, 2. Oktober 2011

Hallo, verehrte Leserschaft!

Die Hälfte meines Aufenthalts ist bereits vorüber und die Zeit verging sehr viel schneller als erwartet (aber das ist ja meistens so).
Also dachte ich mir, könnte ich als kleine Einleitung einen Zwischenstand abliefern, um zu sehen und zu zeigen, wie wohl ich mich hier fühle bzw. was mir Unwohlsein bereitet:
Hier in Kursk komme ich erneut in den Genuss eines gut strukturierten und intensiven Sprachkurses, der von ausgezeichneten Dozenten durchgeführt wird. Außerdem bietet sich mir hier die Möglichkeit meine Kommilitoninnen besser kennenzulernen, oder genauer gesagt: überhaupt erst kennenzulernen! Natürlich haben wir schon zwei Semester mit einander studiert und uns regelmäßig gesehen, da ich aber immer nur zum Unterricht auf dem Unigelände in Germersheim war und mich auch nicht auf legeren, ausartenden und frivolen Feten sehen ließ, bestand mein soziales Umfeld in der Uni lediglich aus mir selbst. Das hat mich bisher auch in keinster Weise gestört , vielleicht aber auch nur deswegen, weil ich nicht wusste, wieviel ich mit meinen Kommilitoninnen an Ansichten, Wissen und Fähigkeiten gemein habe und wie gut ich mich mit ihnen verstehe.



Auf der anderen Seite blickt mein geistiges Auge mehrmals täglich auf die Heimat zurück und auf das, was es bei der Abreise nach Kursk zurückzulassen galt. An erster Stelle sind hier natürlich Familien und Freunde zu nennen. Menschen, die das Leben lebenswert machen und auf die man sich zu jeder Tages- und Nachtzeit verlassen kann. Ferner stehen in Speyer all meine Musikinstrumente, die mir Ausgleich im Alltag bieten und eine Möglichkeit darstellen, Kreativität, Launen und Gefühlen eine Stimme zu geben. In der Rangliste auf dem dritten Platz steht der Lebensstandard, der sich von dem hiesigen in zahlreichen Detaills unterscheidet.
Um mein sentimentales Gequatsche auf den Punkt zu bringen: mir gefällt es hier in Russland sehr; das war auch noch nie anders. Aber ich werde hier immer nur Gast sein können...

So, jetzt geht's aber wirklich weiter mit meinen Einträgen! Nach der letzten Mail, dachte ich mir, würde sich eine Doppelepisode über das vergangene Wochenende sicherlich gut machen. Was alles erlebt und unternommen wurde folgt wie immer chronologisch.

*Samstag, 17. September:*
Das Wochenende beginnt. Für mich persönlich tat es das schon um halb neun, für den Rest der Gruppe eher gegen 11 Uhr. Während vier Mädels mit sportlichen Neigungen ein kleines Jogging und Workout unternahmen, machte ich auf meinem Zimmer eine Konterparty mit Tee und Keksen, um eventuellem (und extrem unwahrscheinlichen) Gewichtsverlust vorrauschauend entgegenzuwirken.
Sobald sich alle von diesem Fitness-Schock (bzw. Zuckerschock) erholt hatten, machten wir uns in zwei Gruppen auf den Weg unseren selbstgestalteten Tagesplan abzuarbeiten...

Unser erster Halt war das nördliche Marktgelände, oder wie ich es treffender zu nennen pflege, der Schwarzmarkt, da ich den Eindruck habe, dass hier kein Verkäufer den biblischen Zehnten Teil entrichtet und dass die angebotenen Waren im Regelfall von asiatischen Menschen im Alter bis zu zwölf Jahren gefertigt werden (mit Ausnahme der Produkte aus Landwirtschaft und Fischfang). Das Sortiment der Waren ist hauptsächlich auf Textilien, schwarzgebrannte mp3-CDs/DVDs und Nahrungsmittel begrenzt, wenn auch die Auswahl recht breit gefechtert ist. Das alles kann man sich so vorstellen, dass jeder Stand in einer kleinen Blechzelle von quadratischem 2x2m Grundriss untergebracht ist, manche ein wenig größer, manche kleiner, ein Stand press neben dem nächsten stehend. Vom Aufbau an sich unterscheidet sich der Schwarzmarkt nicht von einem Jahrmarkt, mit Ausnahme dessen, dass es hier keine Fahrgeschäfte gibt.
Obwohl wir überwiegend schweigend über das Marktgelände liefen, wurden wir allein durch unser Erscheinungsbild als Ausländer identifiziert und mit Skepsis, ja, beinahe Abneigung beäugt. Dies ist ein Ort, in dem man sich als "Fremdkörper" am besten in einer Gruppe von mindestens drei Leuten (je mehr, desto besser) bewegt.
Weil wir uns mehr geduldet als willkommen fühlten, verließen wir das Marktgelände und bewegten uns weiter in Richtung einer zweiten großen Einkaufsgalerie namens "Европа"(Jewropa), in der der weibliche Teil der Gruppe sein ausgeprägtes Kauf- und Konsumverhalten ungehemmt ausleben wollte. Kurzum: Shopping-Tour auf Russisch!
Im Jewropa-Einkaufszentrum verbrachten wir knapp drei Stunden damit Kleidung zu suchen, anzuprobieren und zu kaufen (oder, in meinem Fall, wärhend des langen Wartens die Abgenutztheit meines Schuhwerks zu begutachten und den Kinderladen mit seinen Spielen und Filmen kennenzulernen).
Im Anschluss an die Jewropa-Tour entschieden wir und einstimmig, das Shopping im Puschkinskij-Zentrum fortzusetzen und uns mit der anderen Gruppe zu treffen, um uns anschließend gemeinsam im Fastfoodrestaurant des Ronald McDonald zu verpflegen.

Bevor ich gleich einen Zeitsprung zum Abend vornehme, gibt es hier noch ein wenig zeitgenössische Landeskunde, die uns genauso im Landeskundeunterricht vermittelt wurde: Wie überall auf der Welt wird auch in Russland gerne und viel gefeiert, was ebenso selten abstinent vonstatten geht, wie in Deutschland auch. Doch gibt es was das angeht einige ungewöhnliche Verhaltensregeln zu befolgen. So sollte man sich im Heimatland des Vodka dessen bewusst sein, dass man denselben in Zeiten wie diesen mit Vorsicht oder, wer gerne risikofrei lebt, gar nicht zu genießen hat. Wenn man sich allerdings doch dazu hinreißen lässt den ein oder anderen Kurzen zu genießen, sollte in jedem Fall darauf achten, dass das Getränk in einem größeren Supermarkt gekauft wurde, auf keinen Fall am Kiosk der nächsten Straßenecke; zudem sollte man hier nicht am Geld geizen und mindestens 300 Rubel (ca. 7€) für eine Literflasche ausgeben!
Beim Trinken selbst ist es von sehr großem Vorteil, wenn man nebenher Wasser trinkt oder, was sehr beliebt und meiner Meinung nach auch schmackhaft ist, Essiggurken hinterher isst. Andernfalls gibt es einen sehr dicken Kopf am nächsten Morgen (um der Vernunft willen sollte an dieser Stelle nur nochmal an die große Macht des kleinen Wörtchens "Nein" erinnert werden!)...

Mit diesem Wissen und entsprechender Vorbereitung planten wir einen ausgelassenen Abend mit Discobesuch. Für mich als Stubenhocker und leidenschaftlicher Verfechter und Fürstreiter der ECHTEN Musik eine absolute Premiere, mehr dazu später.
Der Abend begann ganz gewohnt damit, dass sich alle in meinem Zimmer einfanden, weil ich alleine in einem Zweibettzimmer wohne und daher die Möglichkeit habe, sehr viele Gäste in Empfang nehmen zu können. Dank unserer Österreicherinnen, deren Stimmung sich nach der Abreise der stets schlecht gelaunten Hippi-Studentin sehr zum Besseren gewandelt hat, wurden die Stunden auf dem Zimmer um so lustiger: wir tauschten Trinksprüche aus, verglichen deutsche mit österreichischen Bezeichnungen und machten uns über die Tiroler Mundart lustig.
Irgendwann zwischen elf Uhr und Mitternacht machten wir uns auf den Weg zum Nachtclub "Matrix", der bei hiesigen Studenten und Altersgenossen nahezu ausschließlich positive Resonanz hervorruft. Also entschied ich mich, so unvoreingenommen wie nur als natürlicher Skeptiker möglich, diese Erfahrung mitzunehmen und meine Befangenheit und meine Vorurteile gegenüber dieser Art von Nachtleben gegebenenfalls ablegen zu können.
Der Club "Matrix" befindet sich ebenfalls im Einkaufszentrum "Jewropa", welches wir von unserer ausgiebigen Shopping-Tour her kannten. Gegen einen recht humanen Eintrittspreis von 220 Rubel (ca. 5-6€) erhielt ich Zugang zu einer Welt, die ich wohl nie als die meine bezeichnen werde: lautes unmelodisches Gedröhne, dicke, stehende Luft und Menschen, deren Erscheinungsbild mehr als fragwürdig ist. Dazu räkelten sich zwei leicht bekleidete Tänzerinnen auf der Bühne in lasziven Posen, um die geringsten Bedürfnisse der Besucher anzusprechen.
...nicht das, was ich persönlich unter dem Ordner "Bester Abend" verbuchen würde, aber man ist ja immer offen für neues (und wenigstens kann ich jetzt meine innige Abneigung gegen diese Szene damit begründen, dass ich alles schon selbst erlebt und gesehen habe.)
Trotzdem war dieser Abend ein Erfolg in der Hinsicht, dass das ohnehin schon positive und starke Gruppengefühl hierdurch noch weiter gefestigt wurde.

Gegen fünf Uhr morgens kamen wir dann wieder im Wohnheim an und ließen den "Abend" locker ausklingen...


*Sonntag, 18. September:*
"Wer lang feiern kann, der kann auch früh aufstehen...", hab ich mal gehört. Dass es wirklich geht, haben Julia, Andrea und ich damit bewiesen, dass wir uns zusammen auf den Weg zum katholischen Gottesdienst machten, um nach dieser durchzechten Nacht voller Reizüberflutung ein wenig auf den Pfad der Tugend und des Anstandes zurückzufinden versuchten. Die Messe war meines Erachtens nach besser verständlich als am vergangenen Sonntag, was nicht unbedingt daran lag, dass sie von einem anderen Priester gehalten wurde, sondern, das kann man wohl sagen, sich unser Hörverstehen innerhalb der letzten Woche deutlich verbessert hat. Wie auch letzte Woche, kam auch diesmal der Priester nach dem Ende des Gottesdienstes auf uns zu und lud uns für die nächste Woche ein am Gottesdienst teilzunehmen und zwei Gebete in deutscher Sprache vorzutragen...
Man darf gespannt bleiben, wie sich diese Geschichte weiterentwickeln wird! ;-)
Gegen halb eins gingen wir, das heißt Andrea, Julia und ich, frühstücken. Deswegen begaben wir uns einmal mehr ins McDonald's-Restaurant, wo ich persönlich auch einen persönlichen Triumph feierte: die junge Dame am Schalter hat nicht rückfragen müssen, was ich denn jetzt genau will und ich bekam auch genau das, was ich bestellt hatte. Ich wurde auf Anhieb verstanden!
Mit diesem Glücksgefühl (und einem Burgermenü) im Bauch machten wir drei uns auf den Weg zurück ins Wohnheim, wo sich wieder jeder für eine kurze Zeit der Privatsphäre auf sein eigenes Zimmer zurückzog. Später, so hatten wir geplant, wollten wir noch gemeinsam zu Abend Schaschlik essen gehen.
Das Wochenende endete mit einem weitern "Fernsehrabend" auf meinem Zimmer (oder wie man inzwischen vielleicht treffender sagen könnte: "unser Gemeinschaftszimmer") bei Flaschenbier, Knabberzeug und "How I Met Your Mother".
Das war ein schöner und sanfter Abschluss für ein Wochenende mit wenig Schlaf und langen Fußmärschen.

Ich hoffe, dass ich die nächste Mail ein wenig schneller verfasst bekomme als diese hier (ich bin ja schon acht Tage im Verzug!)...

Solange verabschiede ich mich mal wieder aus Kursk,
Euer Martin

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